Grundsätze der Wikipedia auf den Prüfstand

Grundsätze der Wikipedia auf den Prüfstand

Dass selbst ein so offenes und transparentes Medium wie Wikipedia seine Schattenseiten hat, darüber lässt die oben erwähnte Studie keinen Zweifel. Ein aktueller Fall, so der Autor, mache dies deutlich: Hunderte „Paid Editors“ – also bezahlte Auftragsschreiber – hatten in der englischsprachigen Wikipedia im Sinne ihrer Klienten eine Art “Imagepolitur” betrieben und Artikel verfälscht. Wikipedia sperrte daraufhin über 250 Nutzerprofile.

Dies zeige: “Es scheint mehr als eine bloße Vermutung zu sein, dass das Nachschlagewerk zunehmend als PR-Instrument wahrgenommen und genutzt wird. Die enorme Bedeutung von Wikipedia als Informations-, Orientierungs- und Deutungsquelle weckt Begehrlichkeiten bei Unternehmen, Prominenten und anderen öffentlichen Akteuren, auf das elektronische Weltwissen Einfluss auszuüben.”

Bleibt die Frage offen, wie so etwa passieren kann? Schließlich sprechen die vier Leitsätze der Wikipedia eine deutliche Sprache:

Wikipedia ist eine Enzyklopädie.
Beiträge müssen dem Grundsatz des neutralen Standpunkts entsprechen.
Geltendes Recht – insbesondere das Urheberrecht – ist strikt zu beachten.
Die Wikiquette (also eine höfliche Sprache zwischen den Nutzern) ist einzuhalten.

Da freilich nicht davon auszugehen ist, dass sich alle User daran halten, gibt es im Wikipedia-Universum etliche Administratoren, die gegen Sockenpuppen, Edit-Wars und sonstige “problematische” Inhalte zu Felde ziehen – sowie natürlich das Schiedsgericht: Das höchste Gremium der Wikipedia, dass am Ende Konflikte zwischen Nutzern entscheidet und besonders bei politisch kontroversen Themen das letzte Wort hat. Die Anfragen ans Schiedsgericht sind zwar rückläufig, dennoch ist das Urteil bindend. Konkrete Regeln, die eine politische Aktivität außerhalb der Wikipedia untersagen, finden sich in den Wikipedia-Statuten nicht.

Administratoren vs. Sockenpuppen und Edit-Wars

Grundsätzlich wird alles und zwar ausnahmslos zur Diskussion gestellt: das betrifft sämtliche Artikel, Wikipedia-Seiten, Hilfe-Seiten, Benutzer-Seiten und Namensräume. Als Sockenpuppe (englisch: sockpuppet, oder auch fakeaccount) bezeichnet man im Netzjargon ein zusätzliches, anonymes Benutzerkonto. Die Aufdeckung der missbräuchlichen Verwendung von Sockenpuppen führt in der Wikipedia zum Ausschluss sämtlicher bekannter Benutzerkonten.

Ein ständiges gegenseitiges Löschen und Überschreiben von Beiträgen mutet nicht nur kindisch an, sondern wird zurecht von Wiki-Admins sanktioniert: Konflikte über Inhalte gehören schließlich in den dafür vorgesehenen Diskussionsbereich.

Von einem Edit-War (wörtlich: Bearbeitungskrieg) spricht man, wenn zwei oder mehrere Benutzer abwechselnd die Änderungen anderer Benutzer rückgängig machen bzw. überschreiben. In Extremfällen können ein oder mehrere „Krieger“ vorübergehend gesperrt werden, so dass sie keine Wikipedia-Artikel mehr bearbeiten können, denn: Solche Debatten gehören eben auf die speziell dafür vorgesehen Wikipedia-Diskussionsseiten.

Überwachen sollen all das ausgewählte Administratoren. Diese haben keine Sonderstellung gegenüber anderen Benutzern, ihre Stimme zählt wie jede andere. Es handelt sich um normale Benutzer, denen das Vertrauen entgegengebracht wird, mit ihren zusätzlichen Werkzeugen – z.B. zur Sanktionierung von Edit-War-Lords – im Sinne der Wikipedia-Grundsätze zu handeln und dabei ihre eigenen Interessen und Standpunkte zurückzustellen. Nach einem Jahr Inaktivität werden die Privilegien wieder entzogen.

Bestenfalls erreichen die vielen diskursiven “Kleinkriege” das oberste Gremium, also das Schiedsgericht nicht – was gut ist, denn: Neun Schiedsrichter stehen in Deutschland ca. 200 Admins (Stand: 2016) gegenüber. Und Arbeit gibt es genug. Denn an einem mangelt es Wikipedia gewiss nicht: Artikel, deren Aussagen einer Überprüfung bedürfen. Neben Administratoren, kann natürlich auch jeder Autor oder auch User Beanstandungen schriftlich artikulieren.

Wie gut funktioniert die gegenseitige Kontrolle?

Es ist ohne Weiteres gar nicht möglich, genaue Angaben über die Zahl der Freiwilligen bei Wikipedia zu machen. Die Nutzer bringen sich eben verschieden und mit unterschiedlichem Engagement ein. Einige Medienwissenschaftler gehen von einem Kern von ca. 1000 sehr aktiven Wikipedianern aus, andere nur von ein paar Hundert. Wikipedia spricht von „7000 regelmäßig in der deutschsprachigen Sektion der Wikipedia mitarbeitenden Benutzern“ mit jeweils mehr als fünf Seitenbearbeitungen pro Monat.

Dann mal den Rechenschieber raus und ran an die Mathematik: Die deutschsprachige Wikipedia umfasst mehr als 1,7 Millionen Artikel, 4,6 Millionen Seiten und 162.350 Dateien. Geht man mit einer gesunden Portion Optimismus davon aus, dass ca. 1000 User jeden Tag Artikel redigieren, dann kämen rund 1500 Wikipedia-Artikel auf jeden Nutzer, die es zu hegen und pflegen gilt. Bei aller Liebe zu Wikipedia, und die dieses Autors ist groß: Das ist eine Menge Arbeit, oder mit den Worten der Studie “eine für eine Einzelperson kaum zu bewältigende Aufgabe.”

Bei aller Liebe: 1500 Artikel zu überwachen, kommt einer Sisyphus-Arbeit gleich. Zum Glück darf auch jeder Leser Beanstandungen artikulieren.

Die bereits genannten Kontrollmechanismen und “Alarmsysteme” können eo ipso nur dann greifen, wenn die manipulative Editierung eine Artikels, einem “Sichter” überhaupt auffällt. Noch schlimmer: Bemerkt ein freiwilliger Prüfer oder ein höherrangiger User wie ein Administrator eine manipulative Änderung nicht und wird diese freigeschaltet, dann ist dieser Beitrag erstmal publiziert – zumindest solange bis ein aufmerksamer Leser sich moniert.

Der Chef des tragenden Vereins hinter Wikipedia sagt hierzu: „Die Verantwortung ist schon gewaltig. Aber wir werden ihr gerecht, denn wir sind enorm offen und transparent. Jeder kann sehen, was in der Wikipedia passiert, jeder kann mitmachen.“

Nur eine Minderheit der Wikipedia Benutzer dürfte jedoch dem Anspruch gerecht werden, und Wikipedia vollständig durchdringen. Jeder “kann” alles sehen und jeder “kann” partizipieren. Die Betonung auf das Hilfsverb “kann” spricht Bände.

So fällt das Fazit der Studie nicht gerade wohlwollend aus: “PR und Manipulation sind in Wikipedia allgegenwärtig. Nicht nur Unternehmen, sondern auch Verbände, Parteien und Einzelpersonen versuchen auf die verschiedensten Arten und Wege, ihr Bild in der Öffentlichkeit durch Eingreifen in die Artikel der Online-Enzyklopädie zu schönen.”

Was unseren bekannten Herrn “Magister” anbelangt, könnte man gut und gerne dagegenhalten, dass, wann immer es der Wiki-Community nötig erscheint, sehr wohl genug Energie aufgebracht wird, um mögliche Missstände zu bereinigen: Die Diskussionsseite zur umstrittenen AFD-Mitgliedschaft im Schiedsgericht umfasst mittlerweile 77 Threads und scheint sich fortzusetzen. Und zumindest ein Administrator der deutschen Wikipedia hält einen soliden Vorschlag parat, der die unnötige Diskussion fürs erste beenden könnte:

“Das Problem ist, dass der Schiedsrichter ordnungsgemäß gewählt wurde und auch gegen keine formale Regel verstoßen hat. Er selbst will nicht zurücktreten. Also wird man das Ganze wohl aussitzen müssen.”

Auch bei der größten Online-Enzyklopädie muss manchmal der Offizielle einschreiten. Quelle: Wikimedia Commons (bearbeitet).

Geduld scheint in diesem vertrackten Fall tatsächlich das Gebot der Stunde zu sein. Es lohnt sicher, über mögliche Verbesserungen des “Systems” Wikipedia zu diskutieren. Besagte Studie fordert diesbezüglich mehr Bildung im Bereich Medienkompetenz, eine Intensivierung der Quellenverlinkung, unabhängige Kontrollgremien, einen deutlichen Ethik-Kodex,  Sanktionen bei Verstößen, die Offenlegung der Accounts von Unternehmen sowie überhaupt mehr Transparenz der User, Autoren, Admins, etc.

Darüber ließe sich sicher vortrefflich debattieren. Einzelne Beiträge mögen ja einer gewissen Manipulation anheimfallen, aber dass die großen Fragen unserer Zeit auf Dauer verfälscht werden könnten, ist allein wegen der großen Anzahl an Nutzern sehr unwahrscheinlich.

Doch wie dem auch sei: Es lohnt jedenfalls nicht – wie im Fall “Magister” geschehen – über die politischen Gesinnungen einzelner Mitglieder zu streiten. Wenn das System Wikipedia so funktioniert, wie es funktionieren soll, dann dürfte die Parteizugehörigkeit eines Wikipedianers keine Rolle spielen. Das Recht auf freie Meinung, Religion, etc. gilt – wie auch überall sonst – als unveräußerlich. Politisch am rechten oder linken Rand stehende Gruppierungen mögen oft ein besonderes Verhältnis zu Fakten und zur Interpretation von Wissen haben, aber das frei zugängliche Wissen auf Wikipedia können auch sie nicht auf den Kopf stellen. Bestimmt auch nicht am nächsten Montag.