Der Fall Gina Lisa: Ein Opfer kommt selten allein!

Durch ihre Medienpräsenz avancierte eine It-Girl-Ikone zur Gallionsfigur einer viralen Debatte um Feminismus und Sexismus im Strafrecht. Nach ihrer Verurteilung wegen falscher Beschuldigung müssen wir uns nicht mehr fragen: Taugt Gina Lisa zum Sinnbild für eine überfällige Reform des Sexualstrafrechts? Sondern vielmehr: Wem gereichte die erhöhte Medienaufmerksamkeit eigentlich zum Vorteil bzw. zum Nachteil? Fest steht: Etwas verloren haben alle Beteiligten. Eine Chronik.

“Nie wieder würde ich anzeigen.” Überhaupt gehe es niemanden etwas an, was sie mache und sie wolle jetzt auch nichts mehr sagen. So Gina-Lisa Lohfink nach dem Prozess, in dem sie wegen vorsätzlicher, falscher Beschuldigung zu 20.000 Euro verurteilt wurde. Für die Reporter von RTL war dieser Mitschnitt zu langweilig und offenbar nicht relevant genug. Gesendet wurde er jedenfalls nicht.

Dem Schlussplädoyer ihres Verteidigers Burkhard Benecken zur Folge, hätte das “Team Gina-Lisa” mit einem anderen Ausgang gerechnet: “Dies ist der Fall, der zu einem neuen Gesetz geführt hat, das die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen in Deutschland verbessert. (…) Das ist ein riesengroßer Erfolg von Frau Lohfink.” Sollte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft im Fall Lohfink Schule machen, “dann gute Nacht für alle Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind oder zumindest zur Polizei gehen und das behaupten”.

Gleichwohl gelangte der Anwalt Lohfinks überraschenderweise zu dem Schluss, dass seine Mandantin die beiden Männer nie der Vergewaltigung bezichtigt habe. Zumindest “nicht explizit”. Allein deshalb könne sie auch niemanden zu Unrecht beschuldigt haben. Die logische Konsequenz wäre demnach gewesen: Freispruch.

Doch diese Logik hakt: Das vermeintliche Opfer, das dann doch nicht vergewaltigt wurde, aber zum Opfer einer sexistischen Justiz erklärt wurde, sollte also wenigstens zum entscheidenden Impuls für eine verschärfte Gesetzgebung stilisiert werden und als Mahnmal dafür herhalten, was tatsächliche Opfer von sexueller Gewalt besser tun und lassen sollten? Eine seltsame Logik, eine Logik, die man gut und gerne – mit dem neuesten Modewort des Polit-Jargons – als postfaktisch bezeichnen könnte.

Ein schwarzer Tag für die Frauen in Deutschland?

Das abschließende Plädoyer der Richterin Ebner ändert daran erst mal wenig: “Es ist kein Blümchensex zu sehen”, sagte Ebner über die Videos. “Was man sieht, ist nicht jedermanns Geschmack. Aber nirgendwo ist zu sehen, dass Frau Lohfink sich nicht wohlfühlt.” Das lange zurückgehaltene und am letzten Verhandlungstag eingereichte Attest diene als weiterer Beweis dafür, dass Lohfink bewusst wahrheitswidrig ein Verbrechen angezeigt habe – und zwar “mit allen Konsequenzen für die Angezeigten”.

Dem Verteidiger entgegnete die Richterin: Es sei eben nicht “der Fall”, dass der Prozess ein Riesenerfolg für Lohfink sei. Stattdessen hätten schon die Vorgänge in der Silvesternacht in Köln dazu geführt, dass Deutschland sein Sexualstrafrecht verschärft habe.

Und weiter: “Wir haben hier schon Männer verurteilt, obwohl wir nichts anderes hatten als die Aussage der Frau und die Aussage des Mannes.” Richterin Ebner bedauert, dass Frau Lohfink es vorgezogen habe, sich nicht vor Gericht zu äußern. Die öffentlichen Statements von Lohfink und ihren Anwälten vor den Kameras klassischer Medien und in Foren zahlreicher Online-Medien seien für “nicht prozessrelevante Interessen” und “Eigen-PR” missbraucht worden.

Verteidiger Benecken zeigte sich unbeeindruckt und sprach von einem “schwarzen Tag für die Frauen in Deutschland”.

Widersprüche und Kuriositäten

Ja was stimmt denn nun? Vieles. Aber auch nicht viel. Ein Widerspruch? Ja, aber einer der sich womöglich auflösen lässt. Fest steht: Der mediale Wirbel um Lohfink spülte mehr Werbeeinnahmen in die Kassen des Boulevard – von überbordenden Conversions (also erhöhten Klickzahlen online) ganz zu schweigen. Die Einschaltquoten des Dschungelcamps werden wohl nicht darunter leiden, dass die sonst unpolitische Lohfink – zur politischen Aktivistin erhoben – viral durchs Netz und alle sonstigen Medien waberte. Das Honorar für Gina-Lisa beträgt laut Recherchen der Bild übrigens 150,000 Euro – der ausschlaggebende Grund warum sich die Geldstrafe auf 20,000 Euro bezifferte.

Dass sich aus einer erfundenen Vergewaltigungsgeschichte kräftig Kapital schlagen lässt, beweist nicht zuletzt der Fall von Claudia D., die den Wettermoderator Jörg Kachelmann zu Unrecht der Vergewaltigung bezichtigte. Sie kassierte 115,000 Euro für ein Exklusivinterview mit der Bunten sowie für ihre Filmrechte an dem Vorfall. Honi soit qui mal y pense – ein Schelm wer Böses dabei denkt.

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Sie taugt wohl eher nicht als Galionsfigur, jedoch laufen auch die vielen Vorurteile an der Realität vorbei. Quelle: wikipedia.org

Eine Kommentatorin des Tagesspiegels titelte: “Von der Trash-Ikone zum neuen Symbol der Feministinnen: Gina-Lisa Lohfink, das It-Girl und Model, wird von allen benutzt.”
Der Journalist und Jurist Christian Bommarius hielt dagegen und kritisierte die vorschnelle Solidarisierung von Politikerinnen wie Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig: „Lohfink ist wegen falscher Verdächtigung verurteilt worden – das Urteil dürfen ihre Unterstützerinnen auch auf sich selbst beziehen.“ Die Frage, wer das eigentliche Opfer ist (oder die eigentlichen Opfer sind) scheint umstritten.

Wahr ist: Lohfink hat den ersten Prozess, in dem es um den Vorwurf der Vergewaltigung ging, verloren. Was die Vermarktung ihrer Person und die Instrumentalisierung der Öffentlichkeit anbelangt, könnte man sie als Gewinnerin darstellen. Selbst die Washington Post resümierte, dass der Fall Lohfink die Sprengkraft besäße, Deutschland zu spalten und die Debatte über eine Verschärfung des Sexualstrafrechts voranzubringen. Beides war eher nicht der Fall. Vielmehr scheinen sich in den Sphären der Online- und Printmedien viel zu schnell zwei Lager zusammengetrommelt zu haben, die bar jeder Faktengrundlage ein unzureichendes Bild über Gina-Lisa Lohfink gezimmert haben.

Die eine Gruppe nahm das frühere IT-Girl schnell unter ihre Fittiche und wurde nicht müde, ihre symbolische Rolle als Vorkämpferin für eine neue, gerechtere Sexualgesetzgebung zu betonen. Die andere Gruppe wies ihre Klagen zurück und bezichtigte sie, einfach alles dafür zu tun, nur um berühmt zu werden. Klar, dass weder die eine noch die andere Gruppe diesen – auf das einfachste reduzierten – Diskurs für sich entscheiden konnte.

Zwei Seiten einer Medaille

Zwei Journalistinnen der Süddeutschen Zeitung, die Gina-Lisa Lohfink über ein halbes Jahr lang begleitet haben, setzen mit ihren sachlichen Analysen richtungsweisende Impulse hin zu mehr Sachlichkeit: “Ist Gina-Lisa auf dem Video aus der Nacht benebelt? Ja. Ist sie weggetreten? Nein. Sagt sie laut und deutlich Nein zu sexuellen Handlungen? Ja. Hören die Männer dann damit auf? Ja, aber nicht sofort. Respektieren sie Gina-Lisa? Null. War für die beiden Männer in der Situation erkennbar, dass Gina-Lisa das als Vergewaltigung empfindet? Nein. Ist es nachvollziehbar, dass Gina-Lisa das, als sie es später sieht, als Vergewaltigung empfindet? Ja. Ist das widersprüchlich? Ja. Ist es ehrlich? Ja. Auch.”

Widersprüchlichkeit? Ist das das Geheimnis hinter der Person Gina-Lisa Lohfink? Dass ihr Charakter von unauflösbaren Widersprüchen gekennzeichnet ist?

Aus eigener Sicht hält Lohfink sich für ein Opfer einer sexistischen Justiz. Nach Verkündung des Urteils stürmte Lohfink unter Tränen aus dem Saal. Vorher hat sie noch einmal festgestellt, dass sie nicht vor Gericht stehe, um berühmt zu werden, dass sie weder den Sex noch die Filmaufnahmen gewollt hätte und dass das, was die beiden Männer ihr angetan hätten, pervers gewesen sei. Sie sei keine Pornodarstellerin, Hure oder Schlampe. Abschließend ein programmatischer Satz: “Ich überlege mir jetzt, mein Abitur zu machen und zu studieren.”

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Justitia in Deutschland: Eine Sexistin? Das “Team Gina-Lisa” will dagegen ankämpfen. Quelle: wikimedia.com

Der Satz passt gut zu dem Ratschlag, den sie ihren, besonders jüngeren Fans erteilt: “Ich bin keine Hure, keine Schlampe. Ich warne alle Mädchen: Werdet nicht berühmt. Es ist eine schlimme Welt.” Das klingt ein bisschen so als seien “das Abitur haben” und “berühmt sein” zwei sich widersprechende Dinge. Doch wie gesagt, die Biographie von Lohfink ist nicht frei von Widersprüchen.

Nach ihrem Debut bei Germany’s Next Topmodel 2008 folgten Auftritte in Fernsehsendungen wie Das perfekte Promi-Dinner oder Die Alm. 2017 wird sie im Dschungelcamp durchstarten, ein Auftritt, der ihren C-Promi-Status weiter festigen wird. Doch ohne Status, keine Kohle in einer Welt kunterbunter Events, bei denen Gina-Lisa stundenlang im Rampenlicht steht und fotografiert wird: Eröffnungen von Diskotheken, Dessousläden, Erotikmessen. Über sich selbst sagt Gina-Lisa: “Ich bin oft nur Dekoration.” Ihre Freizeit ist geprägt von Besuchen im Solarium, Fitnessstudio und Drogeriemarkt. Ihre Arbeit charakterisiert sie so: “Es muss alles perfekt rüberkommen.”

Ein Satz, der in ihrer Branche vollkommen richtig ist, aber vor Gericht mehr als Scharade denn als Souveränität aufgefasst werden musste. Die beiden Journalistinnen der Süddeutschen Zeitung urteilten hierzu: “Gina-Lisa ist kein gutes Opfer. Nicht wegen ihrer gemachten Brüste, der aufgespritzten Lippen oder der angeklebten blonde Haare, nicht, weil es ihr Beruf ist, sich zu inszenieren – sondern weil sie es auch vor Gericht tut.”

In der Tat besteht kaum Zweifel darüber, dass das “Team Gina-Lisa” der Inszenierung mehr Beachtung schenkte als einer ordentlichen Prozessführung. Vor Gericht erschien Lohfink nicht ohne Begleitung, also zusammen mit ihrem neuen Manager, Gesangspartner, zwei Anwälten und einem eigens gewählten Kamerateam. Haare, Kosmetik, Kleidung, Stil, Gestik, Mimik und Auftritt änderten sich von Tag zu Tag. Dass Richterin und Staatsanwältin dies zum Teil als Taktik bewerteten, ist nachvollziehbar und schwer wegzudiskutieren.

Ungereimtheiten

Skepsis kam schon viel früher auf. Am 8. Juni 2012 erstattete der Anwalt Lohfinks erstmals Anzeige. Erst am 15. Juni wurde die Anzeige um den Vorwurf der Vergewaltigung erweitert. Es wurden zig Briefe zwischen Anwalt und Staatsanwältin hin- und hergeschrieben, um einen Termin zu finden. Doch noch am Vorabend sagte die Managerin von Gina-Lisa das Treffen ab. Für die Staatsanwältin ein Zeichen, dass die junge Klägerin die Anklage nicht ganz Ernst nahm. Zurecht?

Die beiden Männer wurden jedenfalls zu Geldstrafen von 4500 und 5400 Euro verurteilt, weil sie die Videos gegen Gina-Lisas Willen veröffentlicht haben. Eine Vergewaltigung sei darauf nicht ersichtlich, befand die Staatsanwältin und ging von Amts wegen gegen Gina-Lisa vor: wegen Falschbeschuldigung. Damit kam der Stein einer gigantischen Medienpräsenz erst richtig ins Rollen und entlud seine Wucht mit dem Auftakt des Prozess am 26. Juni 2016. Zu diesem Zeitpunkt diskutierte schon die halbe Republik, was genau “Nein” bedeutet und wann eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung ist – und wann nicht! Ein “Hör auf” sei eben deutlich genug.

Interessanterweise haben Anwalt Benecken und Lohfink bereits in einem Fernsehauftritt im Januar 2016 von der angeblichen sexuellen Gewalt erzählt. Auch der ergangene Strafbefehl wegen falscher Verdächtigung kam zur Sprache. In der Sendung wurde ein Nacktfoto von Lohfink aus der “Tat-Nacht” gezeigt und ihre Bitte “Hör auf” eingespielt. Dieses “Hör auf” – Sinnbild einer ganzen Kampagne – verhallte damals im Nirgendwo. Erst das Echo, das im Juni aus der Deckung hervorbrach, empörte Bundesministerin, Justizminister, Feministinnen und große Teile der Medienlandschaft – munter begleitet von (oft grenzwertigen) Empörungen und Entgleisungen auf Facebook, Twitter, Instagram und co.

Theater im Prozess

Unabhängig davon war es womöglich keine gute Strategie, während eines laufenden Strafprozesses ein mediales Feuerwerk zu entzünden. Zumal manche Signale diskursiven Sprengstoff enthielten. Während sich am zweiten Prozesstag vor dem Gericht Hunderte Frauen solidarisch mit Gina-Lisa zeigten, drückte Lohfink ihren Dank aus und schenkte einer Demonstrantin einen Hundert-Euro-Schein mit der Devise: “Geht schön was trinken.” Die Aktivistin nahm ihn.

Im Gerichtssaal bestanden Gina-Lisas Anwälte mehrfach auf Verhandlungspausen. Draußen warteten die Kameras. Das Kern-Team Gina-Lisa wurde in zahlreichen Interviews nicht müde zu betonen, dass hier im Namen aller gegen sexistische Gesetze gekämpft wird. Der Prozess wurde großteils medial geführt. Im Saal schwieg Lohfink. Ihr Anwalt verstrickte sich in einer Wortklauberei: Gina-Lisa habe der Polizei gegenüber nie gesagt, dass sie vergewaltigt worden sei, sondern nur, dass sie den Sex nicht gewollt habe.

Streit war vorprogrammiert: “So viel Unfähigkeit habe ich noch nie erlebt”, warf Gina-Lisas Anwalt der Staatsanwältin vor, doch diese entgegnete: “Gleichfalls.” Die Gerichtssprecherin brachte es auf den Punkt: “Hier wird heute so viel inszeniert, ich komm mir vor wie im Theater.”

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Inszenierung und Fotoshootings ja! Im Gericht eher unpassend. Quelle: pixabay.com

Dazu passt natürlich, dass zwei Privatsender den Prozess ständig mit der Kamera begleiteten. Eine skurrile Situation blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen: Anwälte und Kamerateam philosophierten vor der Richterin über den nächsten Drehort und die am besten passende Kulisse. Das Amtsgericht war ja schon im Kasten.

Staatsanwältin Corinna Gögge monierte – womöglich nicht ganz zu Unrecht – die Dreistigkeit, mit der die Verteidigung diesen Prozesse geführt habe: mit einer “permanenten Verdrehung der Tatsachen”. Kurzum: Es sei “eine Verhöhnung und Irreführung aller Frauen und Männer, die tatsächlich Opfer einer Straftat geworden sind”.

Richterin Antje Ebner bedauerte, dass es viele Fragen gegeben habe, die sie Frau Lohfink nicht habe stellen können, weil die Verteidiger dies nicht zuließen. Eine der Fragen hätte gelautet: Wie konnte es sein, dass Frau Lohfink sich am Abend nach der Vergewaltigung fit genug fühlte, um mit einem ihrer angeblichen Vergewaltiger erneut Sex zu haben und dass trotz der ihr zugefügten Wunden, über die sie so klagte?

Was genau in der besagten Nacht passiert ist, können ohnehin nur Pardis F., Christian C. und Frau Lohfink wissen. Die Justiz musste sich bei der Urteilsfindung auf 18 kurze Filmmitschnitte berufen, die als Beweis für die falsche Vorwürfe herhalten sollten. Die Auswertung des Videomaterials bereitet bestenfalls Kopfschmerzen, denn Eindeutigkeit wird daraus nicht zu gewinnen sein. Die Szenen sind höchst ambivalent – to say the least!