Meinungskampf bei Wikipedia: Wie sicher ist das Weltgedächtnis?

Mit der Offenbarung seiner AFD-Mitgliedschaft entfachte ein Mitglied des obersten Kontrollgremiums der Wikipedia eine Debatte um die Objektivität der Enzyklopädie. Die zentrale Frage dabei: Kann ein Missbrauch bei Wikipedia verhindert werden, obwohl jeder daran mitarbeiten darf? Ein Überblick über Kontrollmechanismen, Funktionsweisen und Schattenseiten der allgegenwärtigen Online-Enzyklopädie.

Spätesten seit dem 20. Oktober 2014 steht fest: Montag ist Pegida-Tag. Warum eigentlich Montag? Der Begriff Montagsdemo entstand 1989/1990 in der DDR, als Proteste gegen das politische System abgehalten wurden. Seitdem griffen mehrere Bewegungen diese Symbolik auf und gingen ebenso montags auf die Straßen: Montagsdemonstrationen gegen Agenda 2010 und Hartz IV, Proteste gegen das Bauprojekt Stuttgart 21, Mahnwachen für den Frieden 2014 und nun eben Pegida, jene AFD-nahe Gruppierung, die offiziell keine Verschwisterung mit der “Alternative” einräumt.

Doch Montag ist nicht nur Pegida-Tag. Seit ein paar Jahren, also noch bevor Pegida, Legida, Mügida, Bagida, Castrop-Rauxida und co. durch die Straßen der deutschen Innenstädte patrouillierten, trifft sich noch ein ganz anderes Gremium immer montags und hält seine wöchentliche Skype-Konferenz: Das sogenannte “Schiedsgericht”, die oberste Instanz der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Im Grunde wäre das nichts weiter berichtenswertes, wenn es die von einem großen Echo begleitete Montags-Konferenz vom 5. September 2016 nicht gegeben hätte. Der langjährige Wikipedia-Autor „Magister“ – Anonymität ist schließlich das Markenzeichen des beliebten Nachschlagewerks – gab seine AFD-Mitgliedschaft zu Protokoll.

Die Katze war also aus dem Sack: Der Herr „Magister“ ist Mitglied bei der AFD und zwar nicht einfach nur so, sondern als aktiver Parteifunktionär und Teil des Vorstands in einem der Kreisverbände in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Skandal?

„Hat die deutsche Wikipedia ein AfD-Problem?“

Spätestens seit Dezember 2016 empörte sich jedenfalls die deutsche Medienlandschaft. Den Auftakt stimmte der Branchendienst Meedia an und titelte: “Streit in der Wikipedia: AfD-Funktionär ins höchste Gremium gewählt.” Damit griff das Medienorgan im Grunde lediglich die Diskussion auf, die in Wikipedia selbst und in anderen Foren seit dem umstrittenen “Outing” anhielt. Kurz darauf fragte die Welt: „Hat die deutsche Wikipedia ein AfD-Problem?“

Klar war zu diesem Zeitpunkt nur: Der Konflikt spaltete die Wiki-Community in zwei Lager. Erst am 18. Dezember war durch den Rücktritt des Schiedsgerichtmitglieds Sebastian Wallroth eine neue Eskalationsstufe erreicht. Damit saßen von insgesamt neun nur noch vier Personen im obersten Wiki-Gericht und das Gremium wurde arbeitsunfähig – so wie es eben in den heiligen Statuten geschrieben steht.

Das eigentliche Problem

Die erste moderne „Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke“ war damals noch ohne AFD, dafür aber mit Voltaire, Diderot, Grimm, Rousseau und Montesquieu. Quelle: wikipedia.org

Wie ist diese Rücktrittswelle richtig einzuordnen? Der Streit geht natürlich weit über das Schiedsgericht hinaus, wobei besonders zwei diametrale Sichtweisen deutliche Konturen zeigen. Auf der “linken” Seite des politisch aufgeladenem Boxkampfs stehen jene, die eine AfD-Mitgliedschaft mit der Arbeit im Wikipedia-Schiedsgericht für unvereinbar halten. Das zentrale Argument: Die Grundsätze der Alternative würden den Wikipedia-Statuten zuwiderlaufen. Auf der “rechten” Seite der diskursiven Arena brüsten sich jene, die sagen: Solange man die Regeln der Wikipedia und das Neutralitätsgebot nicht verletze oder umgehe, spielten persönliche, politische sowie religiöse Ansichten keine Rolle. Der Vorwurf der “Gesinnungsschnüffelei” macht die Runde.

Es könnte kaum ironischer sein: Die scheinbar “rechte” Seite macht sich für freie Meinungs- und Religionsrechte stark, wohingegen die vermeintlich “linke” Seite gewisse politische Gesinnungen als unzulässig empfindet.

Und mal abgesehen von den ewig alten, leider oft wenig ausdifferenzierten Rechts-Links-Schubladen: Die ganze Empörung scheint kräftig überzogen. Der ganze Aufbau von Wikipedia – Stichwort: Open Source – schreit förmlich nach Unabhängigkeit und Neutralität, die durch verschiedene Kontrollinstanzen gewährleistet werden soll.

Angesichts der Debatte scheint es daher sinnvoll, sich die Wirkungsweise von Wikipedia mal genau anzusehen und diese Mechanismen zu überprüfen, die dafür sorgen sollen, dass sich weder Tendenzen noch Färbungen in die Artikel der größten Online-Enzyklopädie einschleichen.

„Manipulation ist in Wikipedia allgegenwärtig.“

Die Otto Brenner Stiftung hat diesbezüglich im Jahr 2014 eine Studie auf den Weg gebracht mit dem Titel: “Verdeckte PR in Wikipedia. Das Weltwissen im Visier von Unternehmen.” Zugegeben: Der Titel der Studie zieht an dem für uns hier relevanten Thema vorbei, nämlich versteckte politische Beeinflussung in Wikipedia-Artikeln, gleichwohl lässt allein das Fazit der Studie keinen Zweifel daran, dass die Ergebnisse der Studie eins zu eins übertragbar sind. Dort heißt es: “PR und Manipulation sind in Wikipedia allgegenwärtig.”

Nebenbei bemerkt: Die Mechanismen, die PR oder sonstige Manipulation – wie in diesem Fall politische – verhindern sollen, sind natürlich dieselben. Das nur vorhab.

Im Kern der Studie steht die Frage, wie gut der Faktencheck mit und in Wikipedia funktioniert und welche Verbesserungsmöglichkeiten Erfolg versprechen könnten? Fest steht: Wikipedia ist inzwischen zu einer der weltweit wichtigsten Informationsquellen überhaupt geworden und gehört zu den Top Ten der beliebtesten Internetseiten. Dem Autor der Studie zufolge fußt der Erfolg der Enzyklopädie darauf, dass hier “eine völlig neue Form der Schaffung von Wissen entsteht, freies Wissen: Es kann sich prinzipiell jeder einbringen, Artikel schreiben, sie verändern, beanstanden. Das Wikipedia-Wissen wird von allen produziert und von allen genutzt – eine gigantische Schwarmproduktion.”

Bei einem historisch sensiblen Thema wie der Wehrmacht scheint eine Manipulation fast ausgeschlossen: Das öffentliche Interesse und die große Anzahl an historischen Studien sollten hinreichend als Korrektiv dienen.

Auch Herr „Magister“ war und ist Teil dieser Schwarmintelligenz. Thematisch bearbeitete das umstrittene Mitglied vornehmlich mittelalterliche Artikel sowie Beiträge über deutsche Panzer des Zweiten Weltkrieges. Konkret gemeint sind Veröffentlichungen über die Schlacht an der Durbe oder den Vertrag zu Salinwerder neben Artikeln über den Panzer III oder Panzer VI Tiger. Soweit eigentlich nichts besonderes. All diese Artikel sind gründlich recherchiert und mit seriösen Quellen belegt – so wie es eben Usus ist bei Wikipedia.

Schwerer wiegt hingegen der Vorwurf eines zurückgetretenen Schiedsgerichtsmitglieds, dass dem “Magister” vorwirft, einen Nutzer protegiert zu haben, der „wehrmachtsapologetische Artikel“ veröffentlicht habe. Mal abgesehen davon, dass die hochsensible Thematik Wehrmacht auf Wikipedia hinreichend und erschöpfend dargestellt scheint, sämtliche Kontroversen inbegriffen, wirft der Kasus “Magister” vor allem eine Frage auf:

Kann ein Missbrauch bei Wikipedia verhindert werden, obwohl jeder veröffentlichen darf? Dazu mehr auf Seite 2.