Nach dem Brexit-Referendum fragen sich viele, wie der Austritt der Briten nun konkret ablaufen soll. Während auf der Insel ein sanfter Ausstieg bevorzugt wird, wollen viele EU-Vertreter Härte zeigen, um Ansteckungseffekte zu vermeiden. Der Austrittsprozess wird sich dabei entlang einer Frage abspielen: Wollen wir die wirtschaftlichen Effekte möglichst minimieren, oder eine stabile, politische Union erhalten? Beides, und das wurde kurz nach der Abstimmung schon klar, geht nämlich nicht.
Nun ist es passiert: Aus Parteipolitik wurde Ernst. Ein eigens zum Zweck der Einigung der britischen konservativen Partei initiiertes Referendum gerät nun zum Worst Case in der Geschichte der europäischen Integration.
Am 23. Juni entschieden sich die Briten mehrheitlich dafür, die EU zu verlassen. Die Entscheidung wird zuallererst die Briten noch lange Zeit beschäftigen. Wie soll der Ausstieg konkret ablaufen? Wer wird in dieser Zeit das Sagen haben? Was passiert mit Schottland und Nordirland? Aber vor allem: Wieviel Europa dürfen die Briten behalten? Womöglich wird man in ein paar Jahren die Nostalgiker (oder heißt es dann: “Eustalgiker”?) sagen hören: Es war nicht alles schlecht in dieser EU! Zum Beispiel der gemeinsame Binnenmarkt, Zollfreiheit, freier Waren- und Reiseverkehr, Subventionen für Landwirtschaft und Strukturförderung. Ein bisschen was ist doch auch zurückgekommen aus der verhassten EU. Einige, wenn nicht alle dieser Punkte werden im Zuge der Brexit-Verhandlungen zur Disposition stehen.
Die Befürworter wollen nur den “Brexit-Light”
“Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm”, das dürfte gerade die Hoffnung vieler Brexit-Befürworter sein. Selbst der offizielle Club der Euroskeptiker, die Farages, Le Pens und Wilders’ sprechen ja immer davon, die EU als Wirtschaftsunion in Freiwilligkeit und Regionalität erhalten zu wollen. Der Binnenmarkt ist toll, schlecht sind nur die “Eliten” in Brüssel und ihre aufgeblähten Gesetzeskonstrukte, die jeden Tag unseren inneren Patrioten ärgern wollen. Wirtschaftsunion ja, politische Union, Währungsunion oder – Gott bewahre – Sozialunion nein!
Und ja, der Binnenmarkt steht nicht automatisch zur Disposition. Vielleicht wird es ja wirklich nicht so schlimm. Auch die übrigen EU-Staaten können ein Interesse an einer “sanften” Loslösung der Briten von der EU haben. Im Rahmen der Verhandlungen könnten Übergangsregelungen für den freien Warenverkehr und den freien Dienstleistungsverkehr getroffen werden mit dem Ziel, die wirtschaftlichen Effekte, die schon am Morgen nach der Abstimmung deutlich spürbar waren – Pfund kaputt, Euro angeschlagen, DAX down –, noch deutlich abmildern zu können.
Laut Tagesschau wünschten sich auch viele Brexit-Anhänger auf wirtschaftlicher Ebene weiterhin eine enge Zusammenarbeit und sind Befürworter des „Gemeinsamen – europäischen – Binnenmarkts“.
Die Verantwortlichen in Brüssel haben nun die Wahl zwischen Pest und Cholera. Harte Linie gegenüber Großbritannien mit maximalen Forderungen an der “Binnenmarkt”-Front – eine Linie, die unseren europäischen Grundwerten DAX und Euro noch einige Zeit hart zusetzen wird. Oder eine “Es-bleibt-alles-so-wie-es-ist”-Taktik, einen Brexit light, der im Schonprogramm die Briten von ihren Pflichten entbindet, ohne ihnen die meisten ihrer Privilegien zu verwehren. Vorbilder wären hier etwa die Schweiz oder Norwegen – mit dem Unterschied, dass diese Staaten nie Teil der EU waren.
Markt oder Staat? Endlich dürfen wir uns positionieren
So oder so: Die Brexit-Verhandlungen werden zur Grundentscheidung für die europäische Union werden. Hatte Brüssel schon im Vorfeld den Ruf, ein reiner Lobbyistenspielplatz zu sein, in dem die Sensibilität der Märkte den einzigen Antrieb politischen Gestaltungswillens darstellt, kann nun nicht mehr ohne weiteres mit Devisen, Indizes und Konjunkturdaten argumentiert werden.
Es stimmt zwar, dass uns marktbewusstes Handeln auch künftig wohl vor den gravierendsten Erschütterungen bewahren wird. Marktstabilität ist auch politische Stabilität, nicht zuletzt in den einzelnen Mitgliedsländern.
Doch zugunsten dieser kurzfristigen Stabilität wäre die Abrechnung am Ende gravierend.
Sie käme nicht gebündelt, sondern in Raten: Denn wenn der Brexit das Signal sendet, dass ein Verlassen der EU mit einem Verbleib im europäischen Wirtschaftsraum ohne große Einbußen möglich ist, wäre das der Anfang vom Ende. Rechtspopulistische und euroskeptische Parteien in vielen Ländern warten bereits mit gezücktem Notizbuch auf die Brexit-Verhandlungen, um ihr Arsenal an Argumenten mit den entscheidenden Sätzen aufzustocken. Das Signal würde lauten: Europäische Integration ist umkehrbar. Jeder Staat kann selbst entscheiden, wie viel Europa er möchte. Würde dieser Gedanke am Ende salonfähig, er gefährdete die EU in ihrem Innersten.
Die künftigen Monate werden spannend. Die Brexit-Verhandlungen werden offenlegen, welches System in der EU das Sagen hat. In der Politikwissenschaft gibt es den Begriff des “Primats der Politik”. Dieser meint den “grundsätzlichen Vorrang demokratisch legitimierter Instanzen, die über die Gestaltung der sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen entscheiden”, sprich:
Die Politik, nicht der Markt, soll das Sagen haben. Sie muss klare Leitlinien und Spielregeln definieren.
Die EU muss das Primat der Politik für sich entdecken. Nur wenn die europäischen Instanzen die Wirtschaftsunion künftig noch stärker an die politische Gemeinschaft koppeln, kann die europäische Gemeinschaft auch als gemeinsamer Wirtschaftsraum erhalten werden. Denn ein loser Verbund, ein “Europa der Nationen”, wie es sich die Rechtspopulisten wünschen, würde bei der erstbesten Erschütterung in sich zusammenfallen. Abschottung wäre die Antwort auf alle kommenden Krisen.
Und so ist der Brexit die große Chance für Europa insgesamt. Meinen wir es ernst mit der Union? Dann brauchen wir mehr Integration und klare, auch politische Spielregeln. Wollen wir nur einen freien Binnenmarkt? Vergesst es! Dieser wäre so krisenanfällig wie die Wirtschaft selbst. Er würde mit der Zeit immer instabiler werden und am Ende zum Freihandelsabkommen verkommen.
Insgesamt haben so die europäischen Politiker im Rahmen der Brexit-Verhandlungen vor allem einen Auftrag: Politiker zu werden.