Der Zufall als Initiator

Der Zufall als Initiator

Im Jahr 1999 erfuhr diese lange als unseriös verbrämte Wissenschaft einen unerwarteten Impuls. Ausschlaggebend dafür war ein Skiunfall in Norwegen. Anna Bågenholm stürzte mit ihren Skiern über eine Felskante kopfüber in einen zugefrorenen Fluss. In einer Luftblase konnte sie 40 Minuten lang weiter atmen, ehe ihre körperlichen Kräften versagten. Als die Rettungskräfte eintrafen, war die schwedische Ärztin nach allen medizinischen Kriterien tot: Die Körpertemperatur betrug weniger als 14 Grad. Das Herz hatte aufgehört zu schlagen. Die Atmung war ausgefallen. Die Hirnaktivität erloschen.

Allen medizinischen Erkenntnissen und aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, konnten die Notärzte Anna Bågenholm erfolgreich reanimieren. Sie wärmten den Körper auf, brachten das Herz zum Schlagen, die Neuronen zum Feuern und ließen sie weiterleben – und das ohne bleibende Schäden!

Wunder oder Wissenschaft?

Ein Wunder? Nicht im Zeitalter der digitalen Revolution. Die bedeutenderen Fragen lauten wohl eher: War Anna Bågenholm wirklich tot? Welche wissenschaftliche Erkenntnis steckt dahinter? Hat die Kälte den Körper der jungen Ärztin erfolgreich am Leben gehalten?

Beinaher Tod im Eiswasser: Ein Zufall gab der Forschung neue Impulse. Bildquelle: Christopher Campbell / Unsplash
Beinaher Tod im Eiswasser: Ein Zufall gab der Forschung neue Impulse. Bildquelle: Christopher Campbell / Unsplash

Der alte Traum der Menschheit, nämlich den Tod zu überwinden, scheint seit diesem Vorfall in greifbarer Nähe. Kein Wunder, dass Anna Bågenholms Unfall die Forschung im Bereich der Kryostase vorantrieb und für zahlreiche Veröffentlichungen im medizinischen Fachbereich sorgte. Im Krankenhaus der amerikanischen Universität Yale gehören die Techniken der Kryonetik bereits zum medizinischen Alltag. Während bestimmter Operationen wird die Körpertemperatur der Patienten auf 18 Grad Celsius herunter gekühlt, sodass der Herzschlag und die Hirnwellen ihre Aktivität einstellen. Anschließend werden sie langsam aufgewärmt: Herz und Gehirn nehmen ihre gewohnte Tätigkeit wieder auf.

Das Cryonics Institute (CI) in der Nähe von Detroit bietet noch viel mehr: Dort werden Menschen in den Kälteschlaf versetzt, in der Hoffnung, eines Tages davon befreit und von ihrem Leid – etwa in Form einer unheilbaren Krankheit – erlöst zu werden.

Die Kryonik geht dabei ein klassisches Risikogeschäft ein. Der Einsatz könnte höher nicht sein: Das Leben selbst. Der Gewinn ist keinesfalls geringer: Leben ohne Krankheit, ein Leben ohne Aussicht auf den baldigen Tod. Ein Risikogeschäft besteht ja bekanntlich aus einem Transfer von Risiken – in diesem Fall die eigene Sterblichkeit – auf ein Unternehmen – das Cryonics Institute – gegen Entgelt – ca. 30000 Euro –, die in Form einer Prämie – das Leben in der Zukunft – ausgezahlt wird.

Denn darum geht es im Grunde: Menschen die sich heute einfrieren lassen, leiden an unheilbaren Krankheiten wie ALS, Krebs oder an den Folgen eines Schlaganfalls. In Zukunft könnte all das heilbar werden. Darauf basiert das Risikogeschäft: Man schläfert jetzt sein Leben ein, nicht wissend, ob man jemals aus dem eiszeitlichen Tiefschlaf geweckt werden kann. Wenn man jedoch geweckt wird, dann ist die Krankheit heilbar und man bekommt die Aussicht auf ein völlig neues Leben in der Zukunft.

Die Menschen, die sich heute einfrieren lassen, stehen i.d.R. kurz vor dem Ableben. Für sie mag der Begriff Risiko irreführend sein, wenn man von Kryostase spricht. Über die Beweggründe dieser Probanden moralisch zu urteilen, verbittet sich daher, jedoch lohnt es, über die technischen Details zu diskutieren, die ein Leben in der Zukunft ermöglichen sollen.

Die Technik, die sich dahinter verbirgt, ist ebenso erstaunlich wie gespenstisch. Die Mediziner am Cryonics Institute gehen dabei wie folgt vor: Zunächst wird das Blut des menschlichen Körpers durch eine Art Frostschutzmittel ersetzt. Erst danach kann der Körper langsam eingefroren werden. Medizinisch betrachtet ist der Proband bereits tot: Der Zerfall der Zellen hat begonnen. Deshalb muss es schnell gehen. Alle bleibenden Schäden, die vor Abschluss dieses tollkühnen Unterfangens entstehen, müssten von zukünftigen Ärzten behandelt werden. Je mehr Zeit vergeht, desto aussichtsloser wird es. Nach über 24 Stunden Zerfallsprozess ist alle Hoffnung zerstoben.

Mehr über die komplizierte Technik lest ihr auf Seite 3.