Pokémon droht, seinen Markenkern zu verlieren

In der ersten Phase nach dem Release der Beta-Version auf dem deutschen Markt dominiert vor allem die Nostalgie, Kritik ist kaum zu hören. Dabei lässt die neueste Version der Serie einige wesentliche Elemente vermissen, die in der Vergangenheit die Hauptmotivation für viele Gameboy-Spieler waren. Der Fokus lag früher deutlich mehr auf der Aufzucht bzw. der Weiterentwicklung einiger weniger Pokémon. Taktik, Strategie und der Wettbewerb mit anderen “Trainern” stand bei den klassischen Spielen besonders im Vordergrund. Die kleinen, mühsam im Kampf gefangenen Monster wurden so zu Sympathieträgern, jeder hatte einige Lieblings-Pokémon, die gehegt und gepflegt wurden, und die diese Fürsorge mit Kampfeslust und Stärke zurückzahlten. Kurzum: Es ging um Beziehungen, um Bindung und Verantwortung.

Dies alles sind Werte, die heute nicht mehr so recht ins Spielkonzept passen würden (und ungleich schwerer in eine Augmented-Reality-Umgebung zu pressen wären). Alleine schon ein Hauptelement der alten Spiele, der Kampf mit anderen Trainern, ist deutlich in den Hintergrund gerückt, einige sporadische Arena-Matches mal ausgeklammert. Der Fokus heutiger Pokémon-Spieler liegt vor allem auf: Sammeln, Sammeln, Sammeln. Jedes Pokémon jeder Entwicklungsstufe wird (kampflos) gefangen, um notwendige EP zu verdienen. Pokéstops, verteilt über die ganze Stadt, werden abgegrast, um das eigene Inventar fleißig mit Items aufzustocken.

Wer dabei weniger Lust hat, am Tag mehrere Kilometer zurückzulegen, der kann allerdings auch viele Items wie Ei-Brutmaschinen oder Lockmodule käuflich erwerben – und seinen “Pokedex” dadurch schneller auffüllen. Statt auf Spielerlebnis, Charme und Strategie setzen die Macher der neuesten Version heute eher auf Quantität. Die Strategie ging bisher auf, das Spiel rangiert seit Wochen auf Platz eins der Download-Charts. Der Aktienkurs von Nintendo schnellte in die Höhe (und sackte später wieder ab), die ersten Umsatzprognosen waren positiv.

Pokémon und Cheesburger: Die neue Welt des mobilen Spielens

Die positiven Prognosen liegen allerdings weniger in den kaufbaren Items verwurzelt, sondern in einer weiteren lukrativen Einnahmequelle: Die Entwicklerfirma Niantic hat nämlich noch eine weitere, vielversprechende Möglichkeit gefunden, mit Pokémon Go Geld zu verdienen: Bereits kurz nach dem Release kündigte das Unternehmen an, künftig vermehrt auf Sponsoring-Modelle zu setzen. Das soll dann laut Netzpolitik.org etwa so aussehen:

“Geschäfte, Kaufhäuser, Restaurantketten können sich als Sponsoren in das Augmented-Reality-Spiel einkaufen. Im Spiel werden diese bezahlten Orte dann attraktiv gemacht, so dass sich Menschen real zu diesen bewegen werden. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die Spieler dort dann nicht nur spielen werden, sondern auch Dinge kaufen. Zum Beispiel Cheeseburger.”

Handy auf Straße mit geöffneter Pokémon-Go App
Mit Augmented Reality sieht so eine Straße gleich schöner aus. // Bild: Pixabay.com

Damit wäre Pokémon Go eines der ersten Spiele, in dem die Einbindung von Unternehmen zum festen Bestandteil des Geschäftskonzeptes werden würde. Eine ohnehin schon weitgehend durchkommerzionalisierte Öffentlichkeit erfährt auf diese Weise den nächsten Schritt zu einer 24/7-Vermarktung, in der Spieler kontinuierlich mit Unternehmensinhalten konfrontiert werden. Durch die enge Zusammenarbeit mit Unternehmen ändert sich schließlich auch die Spielstruktur: Wenn ein Pokéstop nicht mehr bei einer gotischen Kirche, einem Gipfelkreuz oder irgendeiner anderen Sehenswürdigkeit zu finden ist, sondern an Schnellrestaurants, Elektromärkten oder Tankstellen, wird aus der Pokémon-Welt als Abbild unserer Realität schnell eine sehr triste Welt, eine Welt der Großkonzerne – die letztlich akzeptiert werden wird. Denn die User werden auch in Zukunft bereitwillig mitmachen und ihre Daten zur Verfügung stellen, die dann munter durch das Unternehmen weitergehandelt werden.

Werbung ist für die meisten Spieler kein Problem mehr

Längst hat sich in der Welt des Mobile-Gamings die Mentalität durchgesetzt, lieber das eine oder andere Werbebanner zu akzeptieren, als einen einstelligen Eurobetrag für ein Spiel auszugeben. Freemium verspricht für die Hersteller einen unschlagbaren Vorteil, nämlich durch günstigere Preise ein vielfaches von den Usern zu erreichen, die sich früher einen Gameboy gekauft hätten. Die Mobile-User gehen den Deal bereitwillig ein, schließlich lässt sich eine App ja auch jederzeit wieder löschen. Unterm Strich kommen dabei Machwerke heraus, die manchmal revolutionär und manchmal langweilig sind, meistens aber das Gefühl vermitteln, ein unfertiges Machwerk zu sein, in dem das individuelle Spieleerlebnis sich dem kommerziellen Interesse unterordnen muss.

Ging früher auch Indoor: Gaming // Bild: Pawel Kadysz, Unsplash.com
Ging früher auch Indoor: Gaming // Bild: Pawel Kadysz, Unsplash.com

Man kann den Erfolg von Spielen wie Pokémon Go sehr, sehr düster sehen, so wie zum Beispiel der US-Regisseur Oliver Stone, der angesichts des laxen Umgangs der Entwicklerfirma Niantic mit erhobenen Userdaten vor einem “Überwachungs-Totalitarismus” warnte, in dem Firmen das Verhalten der Menschen flächendeckend überwachen. Man kann das Thema aber auch pragmatisch sehen und konstatieren, dass es sich bei Handyspielern selten um echte “Gamer” handelt, sondern um Handybesitzer, die hin und wieder ein Spiel auf ihrem Endgerät daddeln wollen.

Der Spielemarkt ist groß genug für beide Zielgruppen: Diejenigen, die viel Geld investieren, um sich ein Wochenende bei Chips und Bier vor ihre PlayStation zu setzen. Diejenigen, die ihr Heil im Online-Browser-Game finden, und diejenigen, die mit gebeugtem Nacken unsere Straßen bevölkern, um ein Monster nach dem anderen zu fangen.

Eines sollten die Macher von Pokémon Go allerdings bedenken: Die Welt des Mobile Gamings ist viel schnelllebiger, als die Welt der treuen Gamer hinter PC und Konsole. Wer langfristig auf dem Mobile-Markt Erfolg haben will, muss trotz aller kommerziellen Interessen auch vor allem eines liefern: Qualität.